Ingolstadt
Mensch und Maschine

Der dynamische Wandel der Arbeitswelt
Kaum ein Audi, der frisch vom Band fährt, gleicht dem anderen. Die Variantenvielfalt ist enorm. Das setzt äußerst flexible Produktionsabläufe voraus. Dieser Trend zur Individualisierung lässt sich nicht nur bei Produkten beobachten; er bestimmt auch die Bedürfnisse der Mitarbeiter, etwa im Hinblick auf Arbeitszeit, Arbeitsort, Arbeitsweise und Arbeitsinhalt.
Individualisierung
“Karrieren passen sich heute den Lebensphasen der Mitarbeiter an und nicht umgekehrt.”
Am Eingang zum Bürogebäude T02 in der Technischen Entwicklung sitzen Kollegen ins Gespräch vertieft. Ein paar Schritte weiter, durch eine der beiden Drehtüren hindurch, sind Stimmen zu hören. In der farbenfroh eingerichteten Cafeteria mit Stehtischen und Sitzecken herrscht eine angeregte Arbeitsatmosphäre. „Es gibt einen starken Wunsch nach Individualisierung“, bestätigt Jochen Haberland, Leiter Personalpolitik und Grundsatzfragen bei Audi. „Das betrifft auch scheinbar ganz triviale Dinge wie die Raumgestaltung: Es geht nicht nur um ruhige Ecken in Großraumbüros, sondern auch um ein Ambiente, das die Kreativität fördert und die Vernetzung mit Kollegen ermöglicht.“
Trotzdem: Auch im 21. Jahrhundert entstehen Autos an der Produktionslinie in einer Fabrikhalle. Dass in der Produktion ganz anders gearbeitet wird als beispielsweise in einem Büro, steht außer Frage. Die Arbeitsstationen in einer getakteten Fertigung müssen ständig besetzt sein. Doch auch innerhalb des Schichtsystems gibt es für Produktionsmitarbeiter Freiräume, weiß Karl Unger: „Die vor vielen Jahren eingeführte Gruppenarbeit erlaubt es, verschiedene Arbeitspositionen variabel zu besetzen – zum Beispiel im Rotationsverfahren.“ Abgesehen von wechselnden Arbeitsstationen und den von Audi angebotenen Teilzeitmodellen sind den Variationsmöglichkeiten im Bereich der Produktion allerdings Grenzen gesetzt.

Wird sich das in der Zukunft ändern? „Die weitergehende Mensch-Maschine-Kooperation könnte die Lage künftig etwas entspannen“, stellt Wilhelm Bauer eine Verbesserung in Aussicht. „Wenn beispielsweise teilautomatisierte Systeme in der Montage die Gruppenarbeit derart unterstützen, dass nicht mehr jede Station durchgängig besetzt sein muss.“


Mensch und Maschine Hand in Hand
Rationalisierung durch Digitalisierung: Droht in den kommenden Jahren ein Konkurrenzkampf zwischen Mensch und Maschine? Die Sorge, aufgrund des technischen Fortschritts den eigenen Job zu verlieren, ist kein neues Phänomen: Seit dem Einsetzen der Industrialisierung sind immer wieder Berufsbilder verschwunden – und damit auf den ersten Blick Arbeitsplätze weggefallen. Allerdings entstanden in vielen Fällen zeitgleich komplett neue Berufsbilder – und damit viele neue Tätigkeitsfelder. Wilhelm Bauer begreift die künftige Entwicklung als Chance: „Wir sollten nicht so sehr der Frage nachgehen, wie viele Jobs wegfallen – oder in welchem Zeitraum. Wir sollten uns lieber damit beschäftigen, wie Unternehmen in der Zukunft interessante Produkte und ausreichend Wertschöpfung schaffen, um neue, interessante Arbeit zu generieren.“
Der Einsatz von Industrierobotern bedeutet keinesfalls automatisch einen Wegfall von Arbeitsplätzen. Im Gegenteil: Der Karosseriebau im heutigen Maßstab wäre ohne Roboter undenkbar. Dass Roboter auch in der Montage vermehrt Aufgaben übernehmen könnten, zeigt ein Beispiel im Stammwerk Ingolstadt: Dort kommt in der Audi A4-Montage seit mehr als einem Jahr ein Roboter zum Einsatz, der Hand in Hand mit dem Menschen arbeitet – ohne Sicherheitsabsperrung.

Mensch-Roboter-Kooperation
„Das ist Adam“, stellt Audi-Mitarbeiter Rainer Kölbl seinen einarmigen Kollegen vor. Mit einem Saugnapf fischt Adam einen Ausgleichsbehälter für Kühlmittel aus einer großen Kiste und reicht ihn im jeweils richtigen Takt und in der korrekten Position an. „Das entlastet meinen Rücken und erspart mir einen Arbeitsschritt“, nennt Kölbl den ergonomischen Vorzug des orangefarbenen Roboters und beobachtet die fließende Bewegung, mit der Adams Arm erneut in der Transportkiste verschwindet. Solche Mensch-Roboter-Kooperationen eröffnen neue Möglichkeiten, anstrengende und ergonomisch ungünstige Tätigkeiten künftig maschinell durchführen zu lassen.
„Dabei muss der Roboter im Takt des Menschen arbeiten – und nicht der Mensch im Takt des Roboters“, stellt Karl Unger klar. „Wenn wir diese Regel beherzigen, wird der Ausbau von Mensch-Roboter-Kooperationen auf eine hohe Akzeptanz bei den Mitarbeitern stoßen.“ Die Digitalisierung bringt eine ganze Reihe von Veränderungen mit sich, auch für die Standortwahl eines produzierenden Unternehmens: Nicht mehr der Ort mit den günstigsten Arbeitskräften sammelt Pluspunkte als Produktionsstandort, sondern in erster Linie das Land mit den besten Industrierobotern und den versiertesten Fachkräften.

Flexibilität im Arbeitsalltag
“Wir sollten uns damit beschäftigen, wie Unternehmen in der Zukunft neue, interessante Arbeit generieren.”
Um mehr Freiräume für das lebenslange Lernen zu schaffen, möchte Jochen Haberland das Modell der lebensphasenorientierten Arbeitszeitgestaltung weiter vorantreiben: „Fortbildungen, berufsbegleitendes Studium, Elternzeit, Sabbatical – es gibt heute kaum noch geradlinige Lebensläufe. Darauf können wir als Unternehmen mit neuen Modellen reagieren, die unterschiedlich intensive Arbeitsphasen berücksichtigen und gleichmäßiger entlohnen.“ Innerhalb einer beruflichen Laufbahn würden dann nicht nur Auszeiten, sondern auch den verschiedenen Weiterbildungsmöglichkeiten die nötigen Zeitfenster eingeräumt.
Der Wunsch nach mehr Flexibilität im Arbeitsalltag sowie ein individueller Verlauf des Berufslebens erfordern eine Unternehmenskultur des wechselseitigen Vertrauens. Das Führungsleitbild von Audi spiegelt diese Werte wider und setzt auf Wertschätzung und Respekt. Vieles von dem, was in den vergangenen Jahren an den deutschen Standorten Ingolstadt und Neckarsulm entwickelt wurde und sich bewährt hat, fließt nun in internationale Standards, beispielsweise beim Aufbau des neuen Audi-Werks in Mexiko. So waren bislang etwa 750 Mexikaner für mehrere Monate in Ingolstadt, um sich mit den deutschen Kollegen auszutauschen und für den Anlauf nötiges Wissen aufzubauen.
Weil verantwortungsvolles unternehmerisches Handeln nicht vor Landesgrenzen haltmacht, setzt Audi Prozesse und Organisationsformen global um – unter Beachtung der kulturellen Unterschiede an den internationalen Standorten. Das Angebot, in einem anderen Land Erfahrungen zu sammeln, wird von den Mitarbeitern gut angenommen – im Jahr 2015 waren 1.406 sogenannte Expats an einem ausländischen Standort tätig.