Sicher ist sicher

Der
Audi A5 nähert sich der Kreuzung. Das Stoppschild fordert zum Anhalten auf – aber der Audi wird nicht langsamer. Er fährt ungebremst in die Kreuzung ein. Die Fahrerin des Audi A1 auf der Vorfahrtstraße hat keine Chance, sie kann nicht mehr rechtzeitig anhalten. Sie versucht noch auszuweichen, aber die Kollision ist nicht mehr zu vermeiden.
Dieser Unfall* ist schon einige Wochen her, aber in der virtuellen Welt findet er wieder und wieder statt – aus vielen verschiedenen Blickwinkeln: Aus der Vogelperspektive, aus Sicht der beiden beteiligten Fahrzeuglenker. Die 3D-Animation der Unfallrekonstruktion wird mehrfach wiederholt mit dem Ziel, dass sich alle Zuschauer im Raum einen genauen Eindruck vom Hergang machen können. Rund 20 Experten aus unterschiedlichen Fachrichtungen sitzen an diesem Freitag im November 2019 in einem Besprechungsraum der Technischen Entwicklung in Ingolstadt. Die AARU, die Audi Accident Research Unit, hat zur interdisziplinären Fallbesprechung geladen.
24 Stunden – 7 Tage die Woche
Neben Mitarbeitenden von Audi aus den Bereichen Produktanalyse, Datenanalyse, Fahrerassistenzsysteme und aus der Fachabteilung Fahrzeugsicherheit sind auch Mitarbeitende des Kooperationspartners vom Universitätsklinikum Regensburg dabei. Sie alle arbeiten dafür, dass durch die Erkenntnisse über Unfallhergänge Mobilität insgesamt sowie Autos insbesondere sicherer werden.
Das Team um Psychologin Karen Tschech hatte einige Wochen zuvor die beiden Unfallbeteiligten interviewt. Ihr Ziel dabei war es, die psychologischen Aspekte des Unfalls zu beleuchten: War Ablenkung im Spiel? Wie kam es aus der Sicht aller Betroffenen zum Unfall? Um Antworten auf diese Fragen zu erhalten, müssen die Beteiligten natürlich mit einer Befragung einverstanden sein. Die Bereitschaft dazu ist nicht selbstverständlich – wenn die Unfallbeteiligten allerdings hören, dass ihr Fall eventuell zur Vermeidung ähnlicher Unfälle beiträgt, steigt die Zustimmung zu solchen Interviews.

Analyse der Rettungskette
Im Falle eines Unfalls muss es oft schnell gehen. Deshalb bekommt das Team die Unfallmeldungen von sämtlichen Polizeidienststellen in Bayern, die die Unfallforscher unterstützen, über die AARU-Hotline gemeldet. Diese ist zu Bürozeiten von der Teamassistenz der AARU und nachts vom Diensthabenden des Teams Medizin besetzt. So ein Anruf der Polizei kann 24 Stunden am Tag und an sieben Tagen der Woche eintreffen.
Wichtig bei der Unfallanalyse ist auch der Blickwinkel der Mediziner. Dr. Katharina Angerpointner arbeitet an der Uniklinik Regensburg in der Unfallchirurgie. Dort versorgt sie Verletzte nach Unfällen. Für die Unfallforschung wird sie zur Analytikerin – und sie ist gut vorbereitet: Mit ihrem Team analysierte sie die Verletzungen der Beteiligten und erklärt den Technikern von Audi, an welchen Körperteilen die Insassen Kontakt mit dem Interieur hatten und welche Verletzungen dadurch verursacht wurden. Für die Entwickler ist dies ein wertvolles und wichtiges Feedback. Haben alle passiven Sicherheitssysteme funktioniert wie gefordert? Was könnte man noch verbessern? Alle Erkenntnisse wandern in die Entwicklung – und machen so die nächste Generation von Audi Modellen noch sicherer.
Alle an einem Tisch
Mediziner, Psychologen und Techniker: Sie alle sitzen an einem Tisch. Bevor sie die Unfälle regelrecht sezieren können, ist nicht nur Vorarbeit von den Psychologen und Medizinern notwendig. Die AARU bereitet das Unfallgeschehen im Vorfeld akribisch auf. Am Unfallort wird oft auch mithilfe einer Drohne eine Vielzahl an Fotos geschossen, aus denen eine Datenwolke der Location entsteht. Anhand dieser Daten, der genauen Analyse der Unfallfahrzeuge und der Polizeiprotokolle lässt sich dann während der Besprechung der Unfall virtuell bis ins kleinste Details nachvollziehen.
Nun kommt Kristin Blum ins Spiel. Sie arbeitet an der Entwicklung prädiktiver (vorausschauender) Sicherheitsfunktionen. Die Fahrzeugtechnikerin analysiert Unfälle nach den technischen Kriterien der bereits vorhandenen, aber auch der sich noch in der Entwicklung befindlichen Sicherheitssysteme in den Modellen von Audi. Beim Crash des Audi A5 mit dem Audi A1 sucht sie eine Antwort auf die Frage: Hätte ein Assistenzsystem den Unfall verhindern können oder zumindest die Unfallfolgen für die Insassen minimiert? Beide Fahrzeuge hatten kein Notbremssystem auf querende Fahrzeuge an Bord – hätte ein solches die Kollision vermeiden können? Und wie hätte die Intelligenz der Funktion programmiert werden müssen, um das herannahende Fahrzeug als Unfallrisiko einzustufen, den Fahrer zu warnen und den Audi abzubremsen?

Eine große Hilfe bei der Simulation von Unfällen ist für Kristin Blum der EDR, der „Event Data Recorder“. Dieser zeichnet die letzten fünf Sekunden vor der Auslösung des Airbags auf. Bei dem analysierten Unfall betrugen die Ausgangsgeschwindigkeiten circa 50 Stundenkilometer.
Kristin Blum errechnet aus allen verfügbaren Daten, dass ein Notbremsassistent auf Querverkehr aus Sicht beider Autos diesen Unfall mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich hätte verhindern können.

Ein weiterer Unfall wird besprochen. Dieser Fall interessiert die Techniker von Audi aus einem Grund ganz besonders: Ein Audi A3 Sportback e-tron* wurde beim Aufprall stark beschädigt. Interessant ist bei verunfallten Hochvoltfahrzeugen vor allem, ob diese sich etwa anders verhalten als konventionelle Fahrzeuge und ob die Rettungskette anders abläuft. Dieser Fall zeigt: Die Arbeit der AARU endet nicht bei der reinen Analyse des Zusammenstoßes. „Auch die Rettungs- und Bergungsmaßnahmen nach dem eigentlichen Unfall stehen im Fokus. Wichtig gerade bei Hochvoltfahrzeugen. Denn die Bergungs- und Rettungskräfte sollten den Umgang mit Elektrofahrzeugen kennen, um sich selbst nicht zu gefährden. Und auch dabei hilft Audi.“

Sicherer von A nach B kommen
In über 20 Jahren wurden von der AARU in Summe knapp 1.500 Unfälle untersucht und ausgewertet. Thomas Schenk ist lange dabei – ein echter Profi, was die Ermittlungsarbeit im Feld angeht. Und eines ist für ihn ganz klar: Das von der AARU erarbeitete Feedback hilft, die allgemeine Verkehrssicherheit zu steigern – sowohl für Insassen in einem Audi als auch für alle Beteiligten rundherum. Dadurch leistet die AARU einen wichtigen Beitrag – dafür, dass es für alle Verkehrsteilnehmer sicherer wird, von A nach B zu kommen.
* Um die Persönlichkeitsrechte der Unfallbeteiligten zu schützen wurden die Szenarien der Unfälle entsprechend verändert.