Beijing
Innovation made in China

Ankunft in Beijing
“Was wir in Deutschland kitschig finden, kommt hier super an. In China ist Luxus sehr opulent, nicht so dezent und reduziert wie bei uns.”
Erste Station auf dem Tagesprogramm ist die Tsinghua University: Hier haben sich die Audi Mitarbeiter mit Designstudenten für einen Workshop verabredet. Die Universität ist eine der renommiertesten des Landes, gleichzeitig belegt sie international eine Spitzenposition. Hier einen Studienplatz zu ergattern, ist schwieriger als in Harvard oder Yale. Damit ist sie ein Ort, der fast symbolisch für den Fortschritt des Landes steht: Kopieren war gestern, heute zählt die eigene Innovationskraft.
Auf das kreative Potenzial sind die Audianer gespannt: Gemeinsam mit den Studenten wollen sie kulturübergreifende Traumprodukte entwickeln. „Es war faszinierend, mit wie viel Herzblut und Energie die Studenten an die Aufgabe herangegangen sind. Wir hatten wenig Zeit und haben wahnsinnig viel geschafft“, sagt Studioingenieur Frank, begeistert von der Energie und dem Ehrgeiz der Studenten. In nur einem Tag haben sie ihre Visionen in konkrete Vorstellungen und Projekte umgesetzt – einige davon mit aktuellem Praxisbezug, wie zum Beispiel einer Schutzvorrichtung für Radfahrer gegen den Smog in der Stadt.


Ein Land erleben – Erfahrungen teilen
Energie brauchen die Audi Mitarbeiter auf ihrer Reise auch, um den straffen Zeitplan zu absolvieren: Allein das Sightseeing hat es in sich. Die Parole für alle Touren lautet „Capture – Collect – Doodle“. Kamera, Stifte und Skizzenbuch gehören bei jedem Tagesausflug zur Grundausstattung. Daneben ist viel Fingerspitzengefühl gefragt – gerade wenn einheimische Local Heroes die Türen zu ganz privaten Einblicken öffnen. Durchhalte- und Fassungsvermögen – im wahrsten Sinne des Wortes – benötigen die Reisenden auch bei den gemeinsamen Ausflügen in die kulturellen wie kulinarischen Dimensionen der chinesischen Hauptstadt – in nur wenigen Tagen wird Beijing erlebt, erfühlt, erschmeckt. Besonders eindrucksvoll für Pia: „ Networking und Essen, das sind die wichtigsten Themen in China. Und beim Dinner kommt beides zusammen. Die Menschen eressen sich ihre Beziehungen regelrecht.“



Als besonders inspirierend empfinden die Audianer die chinesische Gelassenheit und innere Ruhe. Die Fähigkeit, sich zurückzuziehen und in vollkommener Konzentration aufzugehen, hat Pia beeindruckt: „Gerade die ältere Generation hat eine faszinierende Unantastbarkeit an sich“, sagt sie und erzählt von einem Spaziergang durch die Hutongs. In diesen historischen Altstadtvierteln sieht man die Einheimischen zwischen einfachen, teils verfallenen Häusern Kartoffeln schälen, Haare schneiden oder Karten spielen. Die sich im Hintergrund auftürmenden Wolkenkratzer und die Schnelllebigkeit der dort ansässigen modernen Welt scheinen sie überhaupt nicht wahrzunehmen – in sich selbst ruhend, ungezwungen und fast schon entrückt. Wie die Menschen im Stadtpark Fuxing, wo mitten auf dem Gehweg Dutzende kleiner Gruppen scheinbar selbstvergessen in ihren Tai-Chi-Routinen aufgehen, während hunderte anderer Parkbesucher einfach durch sie hindurchlaufen.
Alt und neu, arm und reich: Die augenscheinlichen Gegensätze im Alltag spiegeln auch die rasante Entwicklung des Landes wider. Chinas Bruttoinlandsprodukt ist in den vergangenen 30 Jahren in die Höhe geschossen. Erst seit Kurzem zeigen abnehmende Zuwachsraten wieder eine Normalisierung – das sogenannte New Normal. Die explosionsartige Erfolgsgeschichte hat auch in der Bevölkerung zwei gegensätzliche Welten zutage gebracht. So gab es vor rund zehn Jahren noch keinen einzigen Milliardär in China. Heute leben dort mehr als in jedem anderen Land der Welt.
Von ihren Erfahrungen berichten die Audianer beim allabendlichen Get-together: Bevor es in den wohlverdienten Feierabend geht, tragen sie ihre Erlebnisse zusammen. Oft versammeln sich alle in einem der Hotelzimmer. Auf dem Boden oder dem Bett sitzend wird diskutiert, beratschlagt, resümiert. Post-its und Skizzen bedecken Fensterscheiben und Schranktüren: Ein Raum voll von Impressionen und Gedanken.


China privat - von der Ansicht zur Einsicht
Nach fünf Tagen dann der Aufbruch: Die Gruppe teilt sich und reist von Beijing nach Shenzhen, Xi’an und Chengdu. Sie besuchen Einheimische in deren privaten Wohnungen und Häusern. Aus nächster Nähe lernen Pia, Frank und ihre Mitreisenden das Leben in China kennen. Ein Leben, das sich gerade in der jüngeren Generation immer westlicher anfühlt und gleichzeitig doch auch ganz fremdartig wirkt: „Der chinesische Geschmack ist sehr verspielt. Alles ist bunt, bunt, bunt. Die Kissen auf dem Sofa, die Bilder an den Wänden – und dann sieht man überall chinesische Symbole und traditionelle Dekorationen in Rot und Gold, die ihre ganz eigene Ästhetik ausstrahlen“, sagt Pia. Auch für Frank ist der Einrichtungsstil zumindest gewöhnungsbedürftig: „Was wir in Deutschland kitschig finden, kommt hier super an. In China ist Luxus sehr opulent, nicht so dezent und reduziert wie bei uns.“
Es sind Eindrücke, die den Reisenden in Erinnerung bleiben: die Wichtigkeit von sichtbaren Statussymbolen, das Miteinander von Tradition und Moderne, der Hunger nach westlichen Produkten, die hier in China oft sonderbar deplatziert wirken. „Aus meiner Sicht als Produktdesigner ist das fast schon ernüchternd: Ich arbeite beispielsweise an Portemonnaies, die hier niemanden interessieren würden; einfach nur deshalb, weil das zurückhaltende Design nicht dem hiesigen Geschmack entspricht. Das heißt nicht, dass ich ab jetzt nur noch bunte Glitzergeldbeutel entwerfe. Aber die Erfahrungen haben sicher einen dauerhaften Einfluss – beispielsweise auf die Farbwahl für das Interieurdesign oder auf die Verwendung von Materialien, die wir unseren chinesischen Kunden zur individuellen Konfiguration anbieten.“
Die Notwendigkeit von alternativen Antrieben
Aber auch negative Aspekte haben die Reisenden zu spüren bekommen. Gerade der Smog ist Pia im Gedächtnis geblieben: „Wir konnten in die Sonne sehen, ohne die Augen zu schützen. Alles wirkt irgendwie düster, obwohl auch immer wieder grüne Bäume die Straßen säumen.“ Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO ist die Feinstaubbelastung in Beijing rund zehn Mal so hoch wie der vorgegebene Grenzwert. Zahlreiche Kohlekraftwerke, die starke Industrie und nicht zuletzt die geografische Lage wirken wie Beschleuniger. Bei bestimmten Wetterlagen staut sich die Luft in der Region rund um die Stadt wie in einem Kessel, sodass der Smog noch dichter wird. Die chinesische Regierung ergreift Gegenmaßnahmen in allen Bereichen – was auch die Automobilindustrie zu spüren bekommt. „New Energy Vehicles“ sollen den Straßenverkehr revolutionieren: rein elektrische Fahrzeuge, Plug-in-Hybride und Brennstoffzellenautos.






Shanghai: Fast wie zuhause
Dass sich China immer weiter der westlichen Gestaltung annähert, spüren Pia und ihre Kollegen bei der Ankunft in Shanghai, wo die Gruppe nach dem Wochenende wieder zusammentrifft. „Beijing hat sich viel chinesischer angefühlt“, sagt Frank. „Wenn man dort das erste Mal ankommt, ist man erst einmal erschlagen vom Lärm, von den fremden Gerüchen, den vielen Menschen. Dann kommt man nach Shanghai und hat fast schon ein Gefühl, als wäre man wieder zuhause.“ Heimische Gemütlichkeit kommt in der bedeutendsten Industriestadt Chinas deswegen aber noch lange nicht auf: In den kommenden Tagen erkunden Frank und Pia gemeinsam mit ihren Kollegen die Shanghaier Autowelt. Allein diese selbst zu sehen und zu erleben ist für jeden Designer eine Reise wert: Seit dem Jahr 2000 hat sich der Pkw-Markt in China um das 20-Fache gesteigert. Der Wunsch nach Mobilität ist Ausdruck des steigenden Wohlstands und hinterlässt Spuren im ganzen Land: Das Reich der Mitte verfügt über das am schnellsten wachsende Autobahnnetz der Welt.
Die Vorlieben der chinesischen Autofahrer sind kein Geheimnis: „Was die Karosserieform betrifft, war die Limousine schon immer der Verkaufsschlager. Ich weiß auch nicht, woran das liegt. Vielleicht erinnert die Form an die Sänfte aus vergangener Zeit“, sagt ein Autohändler. Die Spezifika des chinesischen Markts sind hier viel mehr als anderswo mit der Kultur des Landes verwoben. „Wer etwas auf sich hält, der fährt nicht, sondern lässt sich meistens noch fahren“, erzählt der Mann weiter. Daher seien schon immer Modelle gefragt gewesen, die gerade hinten im Wagen komfortabel sind und genügend Beinfreiheit lassen. Denn der Kunde sitzt auf dem Rücksitz. Mittlerweile stünden auch die SUV hoch im Kurs. „Das ist eine Statussache. Wer lässt sich im Stau oder an der Ampel schon gerne von oben auf den Kopf gucken?“
Zum Abschluss ihres Besuchs in Shanghai tauchen die Audianer noch einmal tief in die kulturelle Geschichte der Stadt ein: Teils von ortsansässigen Experten geführt, teils auf eigene Faust arbeiten sie sich durch die mannigfaltige Welt der chinesischen Typografie, die in Shanghai allgegenwärtig auf das alte, ehrwürdige China aus scheinbar vergangenen Tagen verweist.



Tage wie im Transrapid: Rückblick auf zwei rasante Wochen
Nach 14 Tagen heißt es Abschied nehmen von einer Welt, die man erlebt haben muss, um sie zu begreifen. Was bleibt, ist die Erinnerung an ein Land, dessen Wesen in der Gegensätzlichkeit liegt: in der Vereinigung von traditionellen Werten und Tugenden mit anscheinend unerschöpflicher Energie und ungemein kraftvoller Fortschrittlichkeit. Frank vergleicht die Reise mit einer Fahrt im Maglev, dem chinesischen Transrapid in Shanghai: „Alles geschieht in einem irrsinnigen Tempo. Wenn man mit 400 Stundenkilometern auf eine Kurve zurast, kann man kaum glauben, dass der Zug nicht entgleist. Aber es funktioniert, und das ist wahnsinnig beeindruckend.“ Dasselbe gelte auch für das Leben und Arbeiten in China: „Es gibt hier Ecken, die sich buchstäblich über Nacht verändern, weil Altes abgerissen wird und sofort etwas ganz Neues entsteht – manchmal hat man das fast schon beängstigende Gefühl, dadurch ginge etwas Schützenswertes verloren, aber gleichzeitig kann man nicht anders, als sich von der Agilität und Schaffenskraft mitreißen zu lassen. Nicht zuletzt deshalb werde ich sicher wiederkommen.“ Und das bestimmt nicht nur einmal.